Ingmar Bergmans „Das Schweigen“
von Christoph Meyer
Wir alle schweigen von Zeit zu Zeit, doch was passiert, wenn uns die Sprache verlässt, wir sozusagen sprachlos werden vor all dem Leid, das uns als Menschen innewohnt? Wenn der Ort an dem wir uns befinden, die Personen, die uns umgeben, selbst der eigene Körper, fremd wirkt. Dies zeigt Ingmar Bergmans Meisterwerk „Das Schweigen“ von 1963.
Die Schwestern Anna, Esther und Annas Sohn Johann sind gezwungen, auf ihrer Heimreise einen Zwischenstopp in einer fremden Stadt in einem fremden Land einzulegen, da Esther aufgrund ihres Krebsleidens, einen Anfall erleidet. Sie verbringen die Zeit in einem alten Hotel und während Esther die Zeit im Bett verbringt, trinkt, raucht und onaniert, bis sie zusammenbricht, stürzt sich Anna in das Nachtleben und nimmt sich einen Kellner zum Liebhaber. Immer mehr spitzt sich die Situation zwischen den beiden Schwestern zu, ihre Wut entlädt sich in hasserfülltem Schweigen. Esther beneidet Anna um ihre pralle Körperlichkeit, da sie ihren eigenen Körper bloß noch als Gefängnis empfindet, als ein fremdes Gefäß, das vollends Besitz von ihr ergriffen hat.
Ihre Anfälle werden immer schlimmer, die Sprachlosigkeit und die ohnmächtige Wut zwischen Anna und Esther steigern sich beinahe zu Hass; Anna schläft sogar vor Esthers Augen mit ihrem Liebhaber. Dabei ist es kein wirklicher Hass, der die beiden antreibt, sondern Liebe. Esthers Liebe zu Anna zeigt sich durch Überfürsorglichkeit und Neid, und je mehr Anna diese Liebe spürt, dest mehr muss sie ihre Schwester demütigen. Einzig im Kontakt mit Johann, zeigen sie ihre gute, menschliche Seite. Johann agiert daher fast schon als unschuldiger Ruhepol, dessen kindliche Liebe sich- im Gegensatz zu der Liebe zwischen den Erwachsenen- direkt zeigt. Als Esther wieder einen Zusammenbruch erleidet, reist Anna mit Johann schnell ab. Esther drückt Johann vorher noch einen Brief , in der fremden Sprache geschrieben, mit den Worten „Er ist wichtig, du wirst es verstehen“ in die Hand.
Der Kampf zwischen der intellektuell geprägten Übersetzerin Esther, der „all die guten Bücher“ auch nichts gebracht haben, und der erotisch geprägten Anna, die den Sex als antikommunitativ und eskapistisch begreift, scheint sich zum Kampf zwischen Körper und Geist auszuweiten.
Bergman zeigt die fremde Stadt als surrealen Ort. Normale Kommunikation ist wegen der Sprachbarrieren, nicht möglich, Esther muss sich per Zeichensprachen mit dem skurrilen, alten Hotelangestellten, der sich ihrer nach ihrem Zusammenbruch animmt, verständigen, was das Gefühl der Machtlosigkeit gegen ihre Krankheit verstärkt. Johann irrt mit einer Spielzeugpistole durch das im Jugendstil erbaute Hotel, das wie aus einer anderen Zeit zu sein scheint, und trifft auf eine Zirkusgruppe mit Zwergen. Auch findet in diesem Land scheinbar ein Krieg statt, den man als Zuschauer jedoch nur hintergründig, z.B. durch marschierende Soldaten und Panzer auf der Straße, wahrnimmt. Auch das grelle drückende Licht, die drückende Hitz, spiegeln die Unwirklichkeit des Ortes wieder.
Bergmans schonungslose Darstellung von sexueller Trostlosigkeit in einer Welt ohne Hoffnung, rief bei seinem Erscheinen sowohl in Deutschland, als auch in Schweden Entrüstungsstürme hervor, die zu einer Zensurdebatte führten. „Unsittlichkeit unter dem Deckmantel der Kunst„, warf man dem Film vor, man stellte ihn sogar unter „Pornographieverdacht„, was aus heutiger Sicht irrational und vollkommen unverständlich ist. Trotz des Rufs als Bergmans „Skandalfilm„, gelang dem Regisseur mit „Das Schweigen“ ein beeindruckend dichtes Kammerspiel menschlicher Leere, das nicht nur in die Psychoanalyse, sondern auch in die Tiefen des christlichen Glaubens eintaucht. Trotz der Armheit an Dialog und Geschehen, ist „Das Schweigen„, wohl Bergmans formal expressivster Film, der durch eine enorm dichte Atmosphäre beeindruckt.
Tystnaden , Schweden 1963, 95 min, Regie/Buch: Ingmar Bergman, Kamera: Sven Nykvist, Darsteller: Ingrid Thulin (Ester), Gunnel Lindblom (Anna), Jörgen Lindström (Johann)
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